Wie Sie Überqualifikation besser einschätzen und nutzen können
Überqualifikation ist ein Phänomen, das in vielen Arbeitsmärkten weltweit zu beobachten ist. Menschen, die über mehr Qualifikationen und Fähigkeiten verfügen, als für ihre aktuelle Position erforderlich sind, gelten als überqualifiziert. Dies kann sowohl für die betroffenen Arbeitnehmenden als auch für Unternehmen Herausforderungen, aber auch Chancen mit sich bringen. In diesem Beitrag beleuchten wir die verschiedenen Facetten von Überqualifikation, ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und für beide Seiten Möglichkeiten, um davon profitieren zu können.
Die Dimensionen der Überqualifikation
Laut einem Bericht von Springer Professional übten Ende 2019 etwa 4,05 Millionen Erwerbstätige in Deutschland eine Tätigkeit aus, die unter ihrem Ausbildungsniveau lag. Das entspricht zwölf Prozent der zu diesem Zeitpunkt rund 33,7 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Diese Zahlen zeigen, dass Überqualifikation ein weitreichend verbreitendes Phänomen im deutschen Arbeitsmarkt ist. Statistisch gesehen ist also jede achte Person in Ihrem Unternehmen überqualifiziert, oder fühlt sich entsprechend.
Subjektive Wahrnehmung der Überqualifikation
Interessanterweise ist Überqualifikation eben nicht nur eine objektive Messgröße, sondern hängt stark von der individuellen Wahrnehmung ab. Laut einer Studie von Harari, Manapragada und Viswesvaran (2017) lässt sich Überqualifikation nicht allein am Lebenslauf ablesen. Vielmehr fördern repetitive Arbeit (Lobene, Meade und Pond III, 2015) und eine geringe bisherige Beschäftigungsdauer das Gefühl, dass die Arbeitsanforderungen nicht an die eigenen Fähigkeiten heranreichen. Dies zeigt, dass Überqualifikation ein komplexes, subjektives Phänomen ist, das über den bloßen Ausbildungsgrad hinausgeht. Unabhängig der formalen Voraussetzung für einen Arbeitsplatz sind daher auch Faktoren wie steigender Anspruch und Abwechslung von Aufgaben entscheidende Einflussgrößen für die empfundene oder wahrgenommene Überqualifikation.
Herausforderungen und Chancen
Überqualifikation kann problematisch sein, muss sie aber nicht. Einerseits können überqualifizierte Mitarbeitende zu einer erhöhten Produktivität und Innovation führen, da sie über ein breiteres Wissen und mehr Fähigkeiten verfügen. Andererseits können sie auch unzufrieden sein und das Unternehmen verlassen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Fähigkeiten aktuell und auch in Zukunft nicht angemessen genutzt werden. Darüber hinaus kann Überqualifikation zu Konflikten mit anderen Mitarbeitenden führen, die sich bedroht fühlen könnten.
Vorurteile und Missverständnisse
Viele Unternehmen betrachten Überqualifikation als Problem, obwohl es auf den ersten Blick ein Vorteil sein könnte. Hüseyin Özdemir klärt in einem LinkedIn-Blog über weitverbreitete Vorurteile gegen erfahrene Fachkräfte auf. Es wird angenommen, dass ältere Bewerber weniger anpassungsfähig oder weniger technikaffin sein könnten. Zudem hinterfragen Arbeitgeber oft die langfristige Motivation älterer, überqualifizierter Bewerberinnen und Bewerber. Dahinter steht die Annahme, dass diese die Position nur als Übergangslösung sehen und bei der ersten besseren Gelegenheit das Unternehmen wieder verlassen. Diese Bedenken führen dazu, dass überqualifizierte Personen Absagen erhalten und Unternehmen möglicherweise wertvolles Potenzial ungenutzt lassen.
Möglichkeiten durch Überqualifikation
Trotz der genannten Bedenken und Gefahren bieten überqualifizierte Mitarbeitende zahlreiche Vorteile, die oft übersehen werden. Überqualifizierte Bewerbende bringen umfangreiche Erfahrung und tiefgehendes Fachwissen mit, das sie in ihre neue Position einbringen können. Dies kann besonders in Bereichen nützlich sein, die schnelle Entscheidungsfindung und Problemlösung erfordern. Darüber hinaus können sie als Mentoren für weniger erfahrene Kollegen fungieren und das gesamte Team durch ihre Expertise bereichern. Im Zuge von Wachstum und Weiterentwicklung des Unternehmens können überqualifizierte Mitarbeitende somit die notwendigen Lücken schließen, um das Potential des Unternehmens zu heben.
Schnelle Einarbeitung und Vielseitigkeit
Überqualifizierte Mitarbeitende benötigen aufgrund ihrer Erfahrung oft weniger Zeit für die Einarbeitung und können schneller produktiv werden. Dies reduziert die Onboarding-Phase und nimmt weniger Arbeitszeit von Kollegen in Anspruch. Zudem sind diese Mitarbeitende oft flexibler und können verschiedene Rollen und Aufgaben übernehmen, was besonders in dynamischen Arbeitsumgebungen von Vorteil ist.
Den Blickwinkel ändern: Überqualifikation als Chance
Es ist wichtig, dass Unternehmen diese Vorurteile und Missverständnisse überwinden und die potenziellen Stärken überqualifizierter Bewerber anerkennen. Indem sie die Türen für erfahrene, ältere oder höher qualifizierte Personen öffnen, könnten sie nicht nur wertvolles Know-how und Stabilität in ihre Teams einbringen, sondern auch eine Kultur der Wertschätzung und Diversität fördern. Überqualifikation sollte nicht als Problem, sondern als Chance gesehen werden, die Expertise und Perspektiven zu erweitern – eine Bereicherung, die in der heutigen dynamischen Arbeitswelt von unschätzbarem Wert ist.
Praktische Tipps für Unternehmen, Angestellte und Bewerbende
Um überqualifizierte Personen bestmöglich zu integrieren und zu nutzen, sollten einige Strategien in Betracht gezogen werden:
- Klare Kommunikation: Ein offener und ehrlicher Austausch über Erwartungen und Möglichkeiten kann helfen, Missverständnisse und Unsicherheiten zu vermeiden.
- Mentoring-Programme: Die Einrichtung von Mentoring-Programmen kann eine Plattform bieten, um Wissen und Erfahrung weiterzugeben und gleichzeitig von den frischen Perspektiven neuerer Kolleginnen und Kollegen zu profitieren.
- Weiterbildungsmöglichkeiten: Durch kontinuierliche Weiterbildung und Schulungsprogramme können Unternehmen sicherstellen, dass überqualifizierte Mitarbeiter stets neue Herausforderungen und Lernmöglichkeiten haben.
- Karriereentwicklung: Die Schaffung klarer Karrierepfade und Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens kann dazu beitragen, dass überqualifizierte Mitarbeiter langfristig motiviert und engagiert bleiben. Dies kann u.a. über Spezialistenpositionen, Know-How-Transfer-Funktionen oder Führungskarrieren realisiert werden.
- Flexible Gehaltsmodelle: Ergebnisorientierte oder modulare Gehaltsbestandteile schaffen die Möglichkeit einer passenden Enlohnung, je nach Situation und Notwendigkeit.
Fazit
Überqualifikation ist ein komplexes und vielschichtiges Phänomen, das sowohl Herausforderungen als auch Chancen mit sich bringt. Während es für Unternehmen wichtig ist, die potenziellen Risiken zu erkennen, sollten sie auch die vielen Vorteile überqualifizierter Mitarbeiter wertschätzen und nutzen. Durch geeignete Strategien und eine offene Unternehmenskultur können sie von der Expertise und Flexibilität dieser Mitarbeiter profitieren und gleichzeitig eine dynamische und innovative Arbeitsumgebung schaffen.
Überqualifizierte Bewerbende oder Angestellte sollten offen und mutig mit Unternehmen in das Gespräch gehen, um eine der vielseitigen Chancen und Möglichkeiten der Überqualifikation zu einem für alle nützlichen Mehrwert zu machen. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Gehälter meist nicht nach Qualifikation, sondern nach Aufgabe, Rolle und Ergebnis gestaltet werden.
Letztlich liegt es an beiden Seiten, den Blickwinkel zu ändern und Überqualifikation nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung zu sehen. So können sie nicht nur ihr eigenes Wachstum und ihre Produktivität steigern, sondern auch einen positiven Beitrag zur gesamten Arbeitsmarktlandschaft leisten.